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Goethe, Seidel und die Kamelien

Der Wissende Johann Heinrich Seidel (1744 – 1815) war churfürstlicher, zuletzt königlicher sächsischer Hofgärtner an der Herzogin Garten, auch als churfürstlicher Orangengarten bekannt, in Dresden. Er galt als eine der herausragenden Gärtnerpersönlichkeiten seiner Zeit. Im Jahre 1794 umfasste seine Pflanzensammlung 1.800 Pflanzenarten, 1806 verzeichnete der Hofgärtner dann schon 4.300 Pflanzenarten und -sorten. Damit beherbergte der Dresdner Garten eine der größten Sammlungen Europas zu dieser Zeit. Im Winter 1792/93 blühte bei Seidel zum ersten Mal eine Kamelie.

Goethe zu Besuch in Dresden

Dem botanisch und gärtnerisch interessierten Johann Wolfgang von Goethe blieb dieser Mann nicht verborgen. In seinen naturwissenschaftlichen Schriften finden wir dazu:

„Ich besuchte vor vielen Jahren den alten Hofgärtner Seidel in Dresden, und da ich mich nach verschiedenen Vorkommenheiten erkundigte, war er mir freundlich zu Willen und ging in die Sache ein als ein vollkommen Wissender. Er hatte sich den Begriff in seiner ganzen Folge nach und nach in seiner eigenen Praxis vollständig errungen und gebarte damit besser als irgend ein anderer.“

Goethes erster Besuch bei Seidel fand im August 1794 statt. Welche Pflanzen er damals sah und ob eine Kamelie dabei war, wissen wir nicht. Da diese im Sommer nicht blüht, war sie wohl eher kein wichtiger Gegenstand der Pflanzensichtung. Im 1831 veröffentlichten Aufsatz „Wirkung meiner Schrift die Metamorphose der Pflanzen und weitere Entfaltung der darin vorgetragenen Idee“ berichtet Goethe über diesen ersten Besuch:

„Indessen der Begriff der Metamorphose in Wissenschaft und Literatur sich langsam entwickelte, hatte ich schon im Jahre 1794 das Vergnügen, zufällig einen praktischen Mann völlig eingeweiht in diese offenbaren Naturgeheimnisse zu finden. Der bejahrte Dresdner Hofgärtner J. H. Seidel zeigte mir auf Anfrage und Verlangen verschiedene Pflanzen vor, die mir wegen deutlicher Manifestation der Metamorphose aus Nachbildungen merkwürdig geworden. Ich eröffnete Ihm jedoch meinen Zweck nicht, weshalb ich mir von ihm diese Gefälligkeit erbäte. Kaum hatte er mir einige der gewünschten Pflanzen hingestellt, als er mit Lächeln sagte: „Ich sehe wohl Ihre Absicht ein und kann mehrere dergleichen Beispiele, ja noch auffallendere, vorführen.“ Dies geschah und erheiterte uns zu fröhlicher Verwunderung: mich, indem ich gewahrte, dass er durch eine praktisch aufmerkende lange Lebenserfahrung diese große Maxime in der mannigfaltigen Naturerscheinung überall vor Augen zu schauen sich gewöhnt hatte; ihn, als er einsah, dass ich, als Laie in diesem Felde, eifrig und redlich beobachtend, die gleiche Gabe gewonnen hatte. Im vertrauten Gespräch entwickelte sich das weitere; er gestand, dass er durch diese Einsicht fähig geworden, manches Schwierige zu beurteilen, und zugleich für das Praktische glückliche Anwendung gefunden habe.“

Der Wissende

Beschäftigt hat Goethe dieser Besuch wohl immer wieder. Bekannt ist ein Gespräch vom 2. August 1815, in dem er zu Sulpiz Boisseree in Wiesbaden bemerkte, dass „ein alter Hofgärtner in Dresden von selbst die Metamorphose der Pflanzen gefunden habe und ihm dann mit Freuden davon erzählt habe, wie er gemerkt, dass er auch etwas davon wisse.“

Viele deuten die folgenden Zeilen in Goethes „Wahlverwandtschaften“ als Gedenken an den sächsischen Hofgärtner: Ottilie genoss den frühlingshaften Garten und suchte den Gärtner wegen einiger Zerstörungen im Garten zu trösten. Goethe schreibt:

„Sie machte ihm Mut, dass sich das alles bald wiederherstellen werde; aber er hatte zu ein tiefes Gefühl, zu einen reinen Begriff zu seinen Handwerk, als dass diese Trostgründe viel bei ihm hätten fruchten sollen. Sowenig der Gärtner, sich durch andere Liebhabereien und Neigungen zerstreuen darf, sowenig darf der ruhige Gang unterbrochen werden, den die Pflanze zur dauernden oder zur vorübergehenden Vollendung nimmt. Die Pflanze gleicht den eigensinnigen Menschen, von denen man alles erhalten kann, wenn man sie nach ihrer Art behandelt. Ein ruhiger Blick, eine stille Konsequenz, in jeder Jahreszeit, in jeder Stunde das ganz Gehörige zu tun, wird vielleicht von niemand mehr als vom Gärtner verlangt.“

In einem Brief vom 25. Februar 1798 an Friedrich Schiller, äußert sich Goethe ähnlich:

„Ein alter Hofgärtner pflegte zu sagen: die Natur lässt sich wohl forcieren, aber nicht zwingen, und alles, was wir Theoretisch gegen sie vornehmen, sind Approximationen, bei denen die Bescheidenheit nicht genug zu empfehlen ist.“

Modern würde man heute von der genetischen Bandbreite sprechen, die uns die Pflanzen vorgeben. Aber für den herrschen wollenden Menschen ist das schwer zu verstehen. So gibt es immer wieder vergebliche Versuche, die subtropische Kamelie in unseren Breiten als winterhart zu erklären.

Johann Wolfgang von Goethe besuchte den Hofgärtner Seidel in einer Zeit von 19 Jahren mindestens fünfmal: im August 1794 zum ersten Mal, dann am 21. und am 25. September 1810 und zuletzt am 12. und 14.August 1813. Bei den letzten Besuchen standen die pflanzengeographischen Interessen Goethes im Mittelpunkt. Er machte sich Notizen über die Pflanzen Australiens (5. Weltteil), Afrikas und Nordamerikas. Dies war sein letzter Besuch, zwei Jahre später, im Jahre 1815 verstarb Johann Heinrich Seidel. Sein Pflanzenverzeichnis bewahrte Goethe bis zu seinem Tode in seiner Bibliothek in Weimar auf.

Bei seinem letzten Besuch beim sächsischen Hofgärtner am 14. August 1813 notierte Goethe in sein Tagebuch: „Hofg. Seidel, dessen Sohn von Paris zurück“. Gemeint ist Jakob Friedrich Seidel, der jüngste Sohn, der vor seiner Heimkehr als Inspektor am Jardin des Plantes in Paris wirkte. Im Juni 1813, inmitten des kriegszerstörten und durch Napoleons Truppen besetzten Dresden gründete er eine Gärtnerei, die als erste Erwerbsgärtnerei des deutschen Zierpflanzenbaues in die Geschichte eingegangen ist. Seine, und damit auch die des deutschen Zierpflanzenbaus, erste Spezialkultur war die Kamelie. In wenigen Jahrzehnten entwickelte sich das Unternehmen zum größten Kamelienproduzenten Europas. Später kamen Azaleen und Rhododendron als weitere Spezialkulturen hinzu. Jakob Friedrich brachte einige Kamelienstecklinge aus Paris mit. Der Vater und Hofgärtner besaß aber auch in Dresden schon einige Sorten und vermehrte diese so erfolgreich, dass er sie seit 1807 bereits zum Verkauf anbot. Aus seinem Pflanzenverzeichnis wird dass Goethe wohl bekannt gewesen sein.

Die obige Tagebucheintragung weist darauf hin, dass Goethe wohl die abenteuerlichen Umstände der Heimkehr aus Paris bzw. die Gründung des Unternehmens bekannt waren. Es kann auch angenommen werden, dass der Weimarer Geheimrat die ersten beiden Jahrzehnte der Entwicklung des Kamelienbetriebes und der damit verbundenen Weltgeltung des Dresdner Gartenbaues, aufmerksam verfolgte.

Die Untersuchung der Kamelienblüte

Auch im Weimarer Belvedere versuchten die Gärtner im Auftrag von Goethes Freund und Dienstherren, Carl August Großherzog von Sachsen-Weimar, eine Kameliensammlung aufzubauen. Um 1820 fanden sich im Hortus Belvedereanus immerhin schon 26 Sorten von Camellia japonica L. Im Februar 1818 vermeldete der Großherzog Carl August dem in Jena weilenden Goethe, dass im Belvedere Kamelien und Eriken blühen. Zwei Monate später, Anfang April, schreibt er: „dass die Camelia anemoniflora oder auch waratas, obgleich sie gefüllt ist, Saamen trägt, welcher eben so wie der in der Orangen Blüthe geformt ist“. Goethe antwortet schon am 3. April 1818: „Es wird von großer Bedeutung seyn, wenn jene Camelia reifen Samen tragen sollte. Ich habe das Innere der sehr schönen Krone genau untersucht, und alle die, Dachziegelartig übereinander geschobenen Blätter, die man gar wohl für Nectarien ansprechen kann, ließen keine Spur von Antheren seyn. Eben interessant ist daß Fruchtknoten etwas orangeartiges zeigt, da das natürliche System die Camelien dorthin annähert“. Dieser, zwar irrtümliche, Versuch einer Einordnung der Kamelie in das Pflanzenreich, zeigt zwar kein dichterisches, aber viel mehr botanisches Interesse Goethes an dieser Pflanzengattung. Vielleicht ging dem Besuch des Weimarer Großherzogs am 2. Juni 1827 bei Jakob Friedrich Seidel in Dresden auch eine Anregung Goethes voraus. Nach Besichtigung der Gewächshäuser schrieb er folgenden Brief nach Weimar:

„Nachdem ich gestern den Wald von Camellien bey Seydeln hier gesehen habe, so bin ich überzeugt worden, dass sämtliche Gärtner im Belvedere nicht den geringsten Begriff von der Zucht und der Vermehrungsart dieser prächtigen Pflanzen besitzen. Seit länger als zehn Jahren sind sie nicht im Stand gewesen ein Exemplar zu ziehen, dass so gut wäre wie die mittelmäßigsten Pflanzen bey Seydeln, davon er zu tausenden besitzt… Der Hofgärtner Sckell, wenn er seine Geschäfte in Leipzig wird gemacht haben, so soll er auf wohlfeilste Weise nach Dresden reisen und sich bei Seydeln mit der Zucht der Camellien genau bekannt machen, damit…wir nicht immer in Belvedere an den schönst blühenden Pflanzen, die eine künstliche Zucht bedingen, Mangel leiden, wie das bisher der Fall gewesen ist und lauter schlechte Exemplare vorzeigen müssen oder zum Einkaufen derselben zu schreiten haben, während diese Ausgabe meine Gärtner mir durch ihre Intelligenz ersparen sollten.“

Diese Schelte war sicher ein wenig ungerecht, da in Dresden die natürlichen Bedingungen an Wasser und Erden günstig, in Weimar durch zu hohen Kalkgehalt jedoch höchst schädlich für Kamelien waren. Heute nutzen die Gärtner der Orangerie in Belvedere Regenwasser zum gießen. Damit können die Pflanzen prächtig gedeihen und so ist die dortige Sammlung wieder auf über 80 Sorten angewachsen. Der Austausch zwischen den Gärtnern der Belvederer Orangerie in Weimar und denen der Botanischen Sammlungen, die die Seidelschen Kamelien in Pirna Zuschendorf beherbergen, ist heute lebendig und freundschaftlich. Goethe und sein Dienstherr wären wohl zufrieden.

Quellen:
  • Balzer, Georg: Gestalten aus Goethes Gärtnerbekanntschaften, in Goethe
  • Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe – Gesellschaft, herausgegeben von Andreas B. Wachsmuth, Weimar, 1953
  • Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften
  • Haikal, Mustafa: Der Kamelienwald, Dresden, 2010
  • Petzold, Andreas: schriftliche Nachricht aus Belvedere zum Briefwechsel zwischen Carl August und Goethe 1818, Weimar, 2011